Ein dicht verknotetes rotes Seil mit mehreren losen Enden liegt auf einem weißen Hintergrund. Der Knoten wirkt unübersichtlich und schwer entwirrbar. Dieses Bild steht symbolisch für Komplexität, da die vielen miteinander verknüpften Elemente ein unvorhersehbares und dynamisches System darstellen, das nicht einfach mit einer festen Anleitung gelöst werden kann.

Alles eine Frage der Komplexität

Häufig wird eine „hohe Komplexität“ als nebulöses Argument für den Einsatz von Design Thinking und anderen agilen Methoden ins Feld geführt. Aber was soll das eigentlich genau heißen? Wie unterscheiden sich komplexe Herausforderungen von denen, die es nicht sind? Und warum funktionieren „klassische Vorgehensweisen“ dann nicht mehr? In diesem Artikel erfährst Du mehr über die Unterschiede zwischen komplizierten und komplexen Systemen und was das alles mit LEGO und Carcassonne zu tun hat.

Komplexität vs. „Kompliziertheit“

Um Komplexität besser zu verstehen, ist es hilfreich, sie mit Kompliziertheit zu vergleichen. Aber weil „Kompliziertheit“ nicht so wirklich schön klingt, werde ich im Folgenden von komplizierten Systemen oder komplizierten Umgebungen sprechen.

Vielleicht geht es Dir ja gerade so wie mir selbst vor vielen Jahren. Ich habe nämlich lange gar nicht zwischen „kompliziert“ und „komplex“ unterschieden. Für mich war das im Grunde das Gleiche. Eine komplizierte Angelegenheit konnte deshalb genauso gut eine komplexe Angelegenheit sein. Durch die Beschäftigung mit agilen Methoden wie Scrum, Kanban und Design Thinking wurde mir aber schnell klar, dass es da einen gravierenden Unterschied gibt.

Komplexität unterscheidet sich von Kompliziertheit
Komplexität unterscheidet sich von Kompliziertheit

Leider wird Komplexität meistens auch noch sehr umständlich erklärt. (Dazu brauchst Du nur einen Blick auf den recht verschwurbelten Wikipedia-Artikel über Komplexität zu werfen.) Deshalb will ich versuchen, das ganze Thema für Dich so einfach wie möglich zu erklären.

Der Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen

Komplexe Systeme und Herausforderungen zeichnen sich dadurch aus, dass (sehr) viele Elemente in diesem System existieren, die sich gegenseitig beeinflussen, aufeinander reagieren und deshalb in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Diese Wechselwirkung macht es Dir unmöglich, komplexe Systeme vorab zu durchschauen oder gar zu analysieren. Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist zwar vorhanden, aber sozusagen „versteckt“. In komplizierten Systemen existiert diese Wechselwirkung hingegen nicht.

Dadurch haben komplexe und komplizierte Systeme grundverschiedene Eigenschaften, die unterschiedliche Lösungsstrategien notwendig machen. Ich möchte Dir das am Beispiel eines umfangreichen LEGO-Modells und dem Legespiel Carcassonne verdeutlichen.

Lego als Beispiel für komplizierte Systeme

Ein großes LEGO-Modell mit mehreren tausend Teilen (beispielsweise das Schloss Hogwarts) ist ein hervorragendes Beispiel für ein kompliziertes System. Durch die vielen Teile ist es sehr umfangreich und dadurch natürlich recht schwierig zusammenzubauen. Aber grundsätzlich ist es möglich, für den Zusammenbau dieses Modells einen Plan zu entwerfen. (Nämlich in Form einer Bauanleitung.)

LEGO als Beispiel für komplizierte Systeme, die einen Plan ermöglichen
LEGO als Beispiel für komplizierte Systeme, die einen Plan ermöglichen

Wenn Du diesen Plan befolgst, dann hast Du am Ende ein fertiges Modell, das genau dem entspricht, was vorne auf der Verpackung abgebildet ist.

Carcassonne als Beispiel für Komplexität

Für komplexe Systeme hingegen ist es unmöglich, vorab einen exakten Plan zu entwerfen, der Dich sicher zum Ziel bringt. Tatsächlich lässt sich Komplexität (und der richtige Umgang damit) leicht mit jeder Art von Gesellschaftsspiel erklären. Deshalb möchte ich es Dir hier anhand des beliebten Legespiels Carcassonne verdeutlichen. (Im Grunde kannst Du jedoch jedes beliebige Brettspiel als Beispiel für Komplexität nutzen. Ich habe Carcassonne lediglich gewählt, weil es sehr bekannt ist und ich davon ausgehe, dass Du weißt, wie es gespielt wird.)

Faktoren, die in Carcassonne Komplexität erzeugen

Wie jedes andere Brettspiel ist auch Carcassonne durch einen hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet. Sie entsteht vor allem durch drei Spielregeln:

  • In jedem Spielzug erhältst Du eine Spielkarte, die Du zuvor nicht kennst.
  • Jede gezogene Spielkarte bietet sehr viele Optionen, sie an die existierende Fläche anzulegen.
  • Du weißt nicht, wie Deine Mitspieler bzw. Gegner auf Deine Spielzüge reagieren werden.
Carcassonne als Beispiel für Komplexität
Carcassonne als Beispiel für Komplexität

Das heißt, jedes Mal wenn Du am Zug bist, bist Du mehr oder weniger dem Zufall ausgeliefert und musst mit dem arbeiten, was Du gerade gezogen hast. Gleichzeitig erzeugt Dein eigener Spielzug bei Deinen Mitspielern Gegenreaktionen, weil sie Dich ja nicht gewinnen lassen wollen. Deshalb musst Du jedes Mal, wenn Du am Zug bist, die aktuelle Situation neu bewerten.

Im Gegensatz zum LEGO-Modell kannst Du bei Carcassonne keinen Plan entwerfen, wie Du bestimmte Legekärtchen zusammensetzen musst, um zu gewinnen. Oder wo Du Deine Spielsteine platzieren solltest. Oder wie Dein finales Königreich später genau aussehen wird.

Carcassonne ist komplex, weil Du (besonders zu Beginn) nicht vorhersagen kannst, wie Deine Mitspieler reagieren werden. Kurioserweise ist Dein Ziel trotzdem absolut klar: Du gewinnst, indem Du die meisten Punkte machst. Nur ist überhaupt nicht klar, wie Du das bewerkstelligen kannst.

Die beste Strategie, um Carcassonne zu gewinnen

Was ist nun die beste Strategie, um der Komplexität von Carcassonne zu begegnen?

Nun, zum einen weißt Du ganz genau, wie Du Siegpunkte erzielen kannst. (Nämlich durch das Fertigstellen von Straßen, Burgen, Klöstern etc.) Die beste Strategie ist es deshalb, möglichst bei jedem Deiner Spielzüge Siegpunkte zu erzielen. Denn jeder Spielzug, bei dem Du das nicht tust, birgt das Risiko, dass Dir ein anderer Spieler mit seinem eigenen Spielzug einen Strich durch die Rechnung macht.

Zum anderen solltest Du keinen festen Plan entwerfen, weil dieser ohnehin nicht funktionieren würde. Vielmehr ist es am sinnvollsten, bei jedem Deiner Spielzüge Deine aktuelle Spielsituation neu zu bewerten, Deine gezogene Karte zu prüfen und dann auf Basis dieser Erkenntnisse, Deinen Spielzug durchführen. (Der Dir – wie oben erwähnt – im besten Fall direkt Siegpunkte einbringt.)

Um Carcassonne zu gewinnen und der Komplexität ein Schnippchen zu schlagen, musst Du also kontinuierlich hinzulernen und Dich bei jedem Spielzug an neue Situationen anpassen.

Beispiele für Komplexität in der „echten“ Welt

Komplexität, die eine umfassende, vorherige Analyse und einen ausgefeilten Plan unmöglich macht, begegnet Dir jedoch nicht nur bei einem Gesellschaftsspiel wie Carcassonne, sondern auch in der echten Welt. Häufig spricht man hier auch von der sogenannten VUCA-Welt, weil in der Realität neben Komplexität auch noch schnelle Veränderungen (Volatilität), Ungewissheit und Mehrdeutigkeit (Ambiguität) hinzukommen.

VUCA-Welt
VUCA: Volatility, Uncertainty, Complexity & Ambiguity

Wichtige Treiber, die derzeit sehr viel Komplexität erzeugen, sind beispielsweise:

  • Digitalisierung & Künstliche Intelligenz
  • Globalisierung
  • Klimawandel
  • Corona-Pandemie

All diese Treiber führen dazu, dass Du als Solopreneur mit Deinem Business mit einem hohen Grad an Komplexität konfrontiert bist, der umfangreiche Analysen oder ausgefeilte Pläne unmöglich und nutzlos macht.

Gleichzeitig sind diese jedoch leider immer noch die Standard-Antwort auf komplexe Herausforderungen. Das heißt, wir behandeln komplexe Systeme oder Herausforderungen so, als wären es komplizierte. Wir versuchen das zu analysieren, was nicht zu analysieren ist. Und entwerfen dann darauf aufbauend langfristige Pläne, die schon nach kurzer Zeit obsolet sind.

Weil eine Lösungsstrategie für komplizierte Probleme jedoch nicht auf komplexe Herausforderung passt, ist ein Scheitern vorprogrammiert.

Der richtige Umgang mit Komplexität

Im Grunde kennst Du die Lösung auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit Komplexität bereits. Denn sie steht schon weiter oben im Abschnitt über das Legespiel Carcassonne. Weil ein ausgefeilter Plan und eine intensive Analyse bei hoher Komplexität unmöglich sind, solltest Du vielmehr:

  • Deine aktuelle Situation kontinuierlich bewerten.
  • In kleinen Schritten denken und iterativ vorgehen.
  • Mit dem, was Du tust, sofort Wirkung erzielen. (Beispielsweise durch Prototypen oder ein Minimum Viable Product)
  • Experimentieren, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht funktioniert.
  • Schnell hinzulernen (Fail fast & forward).
  • Neue Erkenntnisse dazu nutzen, Deine derzeitige Strategie schnell anzupassen.
Tests und Experimente
Tests und Experimente sind ein wichtiges Element im Umgang mit Komplexität

Genau das ist das Vorgehen von agilen Methoden wie Scrum, Kanban und eben auch Design Thinking oder Lean Startup. Aber auch Effectuation ist eine nützliche Haltung beim Umgang mit Komplexität. Sie alle geben Dir Werkzeuge an die Hand, mit deren Hilfe Du komplexen Herausforderungen begegnen kannst. Vor allem helfen sie Dir jedoch dabei, schnell hinzuzulernen und Deine Situation immer besser zu verstehen.

Modelle, die sich mit Komplexität beschäftigen

Falls Du Dich noch intensiver mit dem Thema Komplexität auseinandersetzen möchtest, existieren natürlich diverse Erklärungs- und Entscheidungs-Modelle. Die beiden populärsten sind das Cynefin Framework von Dave Snowden und die Stacey Matrix, die auf Ralph Douglas Stacey zurückgeht.

Cynefin Framework

Das Cynefin Framework von Dave Snowden unterscheidet zwischen geordneten und ungeordneten Systemen. Zu den geordneten Systemen gehören einfache (clear) und komplizierte (complicated). Zu den ungeordneten hingegen komplexe (complex) und chaotische Systeme (chaotic).

Das Cynefin Framework hilft Dir dabei, Herausforderung richtig zu einzuordnen und daraus die beste Strategie für Dein Vorhaben anzuleiten.

Stacey Matrix

Die Stacey Matrix ist ein weiteres Hilfsmittel, mit dem Du anhand der Klarheit von Anforderungen und Klarheit der Lösung (bzw. des Lösungswegs) ermitteln kannst, ob Deine Herausforderung einfach, kompliziert, komplex oder sogar chaotisch ist. Die Matrix bezieht sich also direkt auf die verschiedenen Domänen des Cynefin Frameworks.

Allerdings solltest Du dabei im Hinterkopf behalten, dass die Stacey Matrix eine starke Wandlung durchlief und nicht mehr unbedingt dem entspricht, was ihr Urheber mit ihr beabsichtigt hatte. (Tatsächlich hat sich Ralph Douglas Stacey mittlerweile von der nach ihm benannten Matrix distanziert.)

Fazit zum Thema Komplexität

Ich hoffe, ich konnte Dir mit meinen Beispielen zeigen, dass weder Komplexität noch agiles Arbeiten mit Design Thinking etwas ist, das Dir fremd oder unbekannt ist. Vielmehr kennst Du komplexe Systeme in Form von Brettspielen bereits.

Die Herausforderung besteht meistens nur darin, sie auch als solche zu akzeptieren. Als Gründer benötigst Du deshalb auch das richtige Mindset, damit Du Deine Herausforderungen als das erkennst und behandelst, was sie wirklich sind: komplex.

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