Ikigai für Gründer und Solo-Selbstständige

Finde Dein Ikigai!

Ikigai ist ein japanisches Konzept, das sich auf den “Lebenssinn” bzw. den “Grund, morgens aufzustehen”, bezieht. Der Begriff setzt sich aus iki (Leben) und gai (Wert) zusammen und steht ursprünglich für ein ganzheitliches Denken und Handeln, das zu einem glücklichen, langen und erfüllten Leben führt.

Wenn Du überlegst zu gründen und Dich selbstständig zu machen, kann Dir das Ikigai-Konzept dabei helfen, Dir die richtigen Fragen über Dich und Deine Gründungsidee zu stellen. Denn schließlich möchtest Du durch Deine Gründung sicherlich auch ein erfüllteres und glückliches Leben führen.

Die Ursprünge von Ikigai

Die Wurzeln von Ikigai reichen bis in das 14. Jahrhundert zurück. Bis heute spielt Ikigai eine bedeutende Rolle im Alltag und der Kultur Japans. Häufig wird Ikigai sogar als wichtigster Grund für die hohe Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit in Japan betrachtet.

Das gilt ganz besonders für Okinawa, das zu den fünf sogenannten Blue Zones der Welt gehört, in denen die Lebenserwartung außerordentlich hoch ist. Auffällig ist dabei, dass die Bewohner von Okinawa bis ins hohe Alter sehr aktiv und gleichzeitig in ein starkes soziales Netzwerk eingebunden sind. Beispielsweise existieren sogenannte Moai-Gruppen, die einer zweiten Familie gleichkommen. Kurioserweise gibt es auf Okinawa anscheinend auch kein Wort für Rente.

Es dauerte natürlich nicht lange, bis auch die westliche Welt auf Ikigai aufmerksam wurde und sich intensiver mit der japanischen Lebensphilosophie beschäftigte. Beispielsweise spielt Ikigai in der Working-Out-Loud-Methode von John Stepper eine wichtige Rolle, die vor einigen Jahren einen echten Hype erzeugte.

Allerdings erfuhr das ursprüngliche Konzept von Ikigai dabei eine starke Veränderung, weil der Bereich Arbeit & Beruf plötzlich stärker mit einbezogen wurde.

Die “Neuinterpretation” von Ikigai

Das, was ursprünglich mit Ikigai gemeint war bzw. ist, wurde (wie so vieles andere) im Laufe der Zeit umgedeutet und mit anderen Dingen vermischt. Verantwortlich für diese Umdeutung (manche sprechen auch von Verschlimmbesserung) ist wohl vor allem ein Blogartikel des Business Coachs Marc Winn aus dem Jahr 2014. In diesem Artikel greift Winn ein bereits existierendes Venn Diagramm über Purpose auf und ersetze darin einfach das zentrale Element Purpose durch Ikigai.

Das ursprüngliche Purpose-Diagramm wiederum entstand zwei Jahre früher durch den Astrologen (!) Andres Zuzunaga. Hinzu kommt noch, dass bei der Übersetzung vom Spanischen ins Englische die beiden Begriffe Vocation (Berufung) und Profession (Beruf) ihre Position getauscht haben, ohne, dass es jemandem groß aufgefallen wäre…

Mehr über die verrückte Geschichte des Ikigai-Begriffs kannst Du auch im Blogartikel von Sources of Insights nachlesen.

Du solltest Dir also darüber bewusst sein, dass das, was heute als Ikigai bekannt ist, weder etwas mit der japanischen Lebensphilosophie zu tun hat, noch auf einer besonders soliden wissenschaftlichen Basis steht. (Astrologie ist ja jetzt nicht unbedingt die beste Quelle für zuverlässige Erkenntnisse.)

Die vier Elemente von Ikigai

Die Ikigai-Neuinterpretation von Marc Winn geht davon aus, dass vier verschiedene Elemente zusammenkommen müssen, damit “Lebenssinn” oder der “Wert des Lebens” entstehen kann:

  1. Was Du liebst.
  2. Was Du gut kannst.
  3. Was die Welt braucht.
  4. Wofür Dich Menschen bezahlen.

Was Du liebst

Das erste Element von Ikigai ist das, was Du liebst. Damit sind Aktivitäten und Dinge gemeint, von denen Du kurz gesagt einfach nicht genug bekommen kannst und für die Du keine weiteren Anreize benötigst. Du bist schlichtweg intrinsisch motiviert, wenn Du diese Tätigkeiten ausübst.

Was Du gut kannst

Das zweite Ikigai-Element ist das, was Du gut kannst. Häufig sind das natürlich gleichzeitig die Dinge, die Du liebst (siehe oben). Das liegt unter anderem daran, dass wir Menschen diejenigen Aktivitäten, die wir lieben, auch sehr häufig ausüben, dabei kontinuierlich hinzulernen und folglich immer besser werden.

Allerdings muss das nicht immer zwangsläufig der Fall sein. Denn mitunter sind wir Menschen ziemlich schlecht darin, unsere eigenen Begabungen klar zu erkennen. Umgekehrt haben wir auch sehr oft eine Neigung für Dinge, für die wir eigentlich relativ wenig Talent mitbringen.

Wenn Du Dich mit diesem Thema ein wenig intensiver auseinandersetzen möchtest, empfehle ich Dir übrigens das Buch Mach, was Du kannst von Aljoscha Neubauer.

Was die Welt braucht

Der dritte Baustein Deines Ikigais ist das, was die Welt braucht. Das Ikigai-Modell geht also davon aus, dass Du die Tätigkeiten, die Du liebst und gut kannst, nicht nur für Dich selbst unternimmst, sondern dass sie auch einen Wert bzw. Nutzen für andere erzeugen.

Wofür Dich Menschen bezahlen

Das vierte und letzte Element von Ikigai ist das, wofür Dich Menschen bezahlen. Es soll sicherstellen, dass Dein Ikigai nicht im “luftleeren Raum schwebt”, sondern Du in der Lage bist, Deinen Lebensunterhalt davon zu bestreiten. Es gewährleistet sozusagen, dass Dein Ikigai kein reines Hobby bleibt.

(Wenn Du dieses vierte Element mit dem ursprünglichen, japanischen Ikigai-Begriff vergleichst, wirst Du hier natürlich die größte Abweichung zum “klassischen Ikigai” feststellen.)

Leidenschaft, Mission, Berufung & Beruf

Im Ikigai-Modell werden die oben genannten vier Elemente in einem Venn-Diagramm übereinander gelegt, sodass verschiedene Schnittmengen aus zwei, drei bzw. allen vier Bausteinen entstehen. Ikigai entsteht erst dann, wenn alle vier der oben genannten Elemente vorhanden sind.

Die ersten Schnittmengen bestehen jedoch zunächst aus lediglich zwei Elementen, wodurch die Felder Leidenschaft, Mission, Berufung & Beruf entstehen.

Leidenschaft (Passion)

Laut des Ikigai-Modells entsteht Leidenschaft dann, wenn das, was Du liebst, mit dem, was Du gut kannst, zusammenfällt.

Mission

Wenn die Welt braucht, was Du liebst, dann befindest Du Dich auf einer Mission.

Berufung (Vocation)

Deine Berufung hingegen findest Du, wenn Du für das, was die Welt braucht, auch bezahlt wirst.

Beruf (Profession)

Im Gegensatz zur Berufung ist der Beruf das, was Du gut kannst und wofür Du bezahlt wirst.

Wenn eines der Ikigai-Elemente fehlt

Leidenschaft, Mission, Berufung und Beruf entstehen bereits, wenn zwei Elemente vorhanden sind. Allerdings ist es auch möglich, dass insgesamt drei Elemente vorhanden sind, während das vierte Element fehlt, damit Ikigai entstehen kann.

  • Wenn Du für das, was Du liebst und gut kannst, auch bezahlt wirst, bist Du höchstwahrscheinlich zufrieden, aber fühlst Dich nicht gebraucht, weil die Welt es nicht benötigt.
  • Falls das, was Du liebst und gut kannst, von der Welt gebraucht wird, Dich jedoch niemand dafür bezahlen möchte, erreichst Du Erfüllung, aber keinen Wohlstand.
  • Beim dritten Fall wird das, was Du liebst, von der Welt gebraucht und Du wirst auch dafür bezahlt. Dadurch bist Du zwar wohlhabend, verspürst allerdings ein Gefühl der Unsicherheit, weil Du es nicht gut kannst.
  • Wenn das, was Du gut kannst, von der Welt gebraucht wird und Du auch dafür bezahlt wirst, ist das für Dich komfortabel, aber Du verspürst eine innere Leere, weil Du es nicht liebst.

Parallelen des Ikigai-Modells zum Business Model Canvas

Obgleich der Ikigai-Begriff (im Vergleich zur ursprünglichen, japanischen Lebensphilosophie) eine starke Veränderung durch Marc Winn erfahren hat, solltest Du Dich als Gründer und Solo-Selbstständiger trotz alledem intensiv damit beschäftigen. Denn interessanterweise sind drei der vier Ikigai-Elemente nahezu identisch mit den wichtigsten Grundpfeilern eines funktionierendes Geschäftsmodells.

Desirability, Feasibility & Viability

Wenn Du einen Blick auf das Business Model Canvas wirfst, kannst Du erkennen, dass sich dessen Bausteine in drei verschiedene Kategorien unterteilen lassen, die Alexander Osterwalder Desirability, Feasibility und Viability nennt.

  • Desirability beantwortet die Frage, ob Menschen Bedarf an Deiner Value Proposition haben und entspricht damit im Großen und Ganzen dem Ikigai-Element Das, was die Welt braucht.
  • Feasibility steht für die Frage, ob und vor allem wie es Dir möglich ist, Deine Value Proposition zu verwirklichen. Besonders der Baustein Key Activities steht dabei in einem engen Bezug zum Ikigai-Element Das, was Du kannst.
  • Viability hingegen steht für die Lebensfähigkeit Deines Geschäftsmodells. Wie generierst Du Einnahmen, die höher sind als Deine entstehenden Ausgaben? Auch dieser Grundpfeiler eines funktionierenden Geschäftsmodells findet sich im Ikigai-Gedanken wieder. Nämlich in Form von Wofür Dich Menschen bezahlen.

Was das Business Model Canvas allerdings nicht beantwortet, ist die Frage, ob all das auch etwas ist, was Du liebst. Im Umkehrschluss bedeutet das jedoch gleichzeitig, dass Du Dir durch eine intensive Beschäftigung mit dem Business Model Canvas Antworten auf drei von vier wichtigen Ikigai-Fragen erarbeiten kannst. Darüber hinaus kannst Du auf diverse Tests & Experimente zurückgreifen, mit deren Hilfe Du Dein Geschäftsmodell auf Herz und Nieren überprüfen kannst.

Wie Du Dein Ikigai findest

Was Du liebst

Das erste Element von Ikigai ist – im Vergleich zu den restlichen drei – noch relativ einfach zu ermitteln. Denn wahrscheinlich kommen Dir direkt sehr viele Dinge in den Kopf, wenn Du Dir die Frage stellst, was Du liebst. Genau deshalb solltest Du all das auch direkt auf Post-its schreiben und zunächst einmal alles sammeln, was Dir dazu einfällt.

  • Welche Dinge könntest Du jeden Tag tun?
  • Wobei wird Dir niemals langweilig?
  • Welche Aktivitäten übst Du mit Begeisterung aus?

Wenn Du bei diesem Ikigai-Element ein wenig Unterstützung gebrauchen kannst, kannst Du an dieser Stelle einen Blick auf den Golden Circle von Simon Sinek werfen. Der Golden Circle hilft Dir dabei, Dein WARUM zu entdecken und es vor allem klar zu formulieren.

Was Du gut kannst

Wie schon weiter oben erwähnt, ist das, was Du kannst, nicht immer auch das Gleiche wie das, was Du liebst. Wenn Du mit dem Gedanken spielst, zu gründen und Dich selbstständig zu machen, solltest Du Dir über Deine eigenen Stärken (und Schwächen) bewusst sein.

Vor allem musst Du Dir darüber klar werden, ob Du alle notwendigen Fähigkeiten besitzt, Deine Geschäftsidee zum Leben zu erwecken. Besitzt Du zum Beispiel Skills (oder eine Kombination von Skills), die niemand anderes besitzt? Kannst Du dadurch Alleinstellungsmerkmale erzeugen, um Dich von Wettbewerbern abzugrenzen?

Um ein klares Bild von Dir und Deinen Fähigkeiten zu erlangen, solltest Du Dich intensiv mit Menschen unterhalten, die Dich gut kennen. Wie schätzen sie Dich ein? Welche Deiner Fähigkeiten schätzen sie besonders an Dir? Wo sehen sie Deine Stärken?

Sollte sich herausstellen, dass Dir vielleicht noch die eine oder andere Fähigkeit fehlt, um Deine Geschäftsidee umzusetzen, solltest Du allerdings nicht direkt die Flinte ins Korn werfen. Du kannst Dir nahezu jede Fähigkeit durch intensives Lernen aneignen und Dich weiterentwickeln. Hartnäckigkeit (engl. Grit) ist für Deinen Erfolg als Soloselbstständiger und Gründer sehr viel wichtiger als Talent. Belegt ist das sehr gut durch die Forschung der Psychologin Angela Duckworth.

“As much as talent counts, effort counts twice.”
Angela Duckworth
Angela Duckworth

Was die Welt braucht

Während es vergleichsweise leicht ist, herauszufinden, was Du selbst liebst und was Du gut kannst, ist es schon deutlich schwieriger zu ermitteln, ob “der Rest der Welt” sich genauso für Deine Geschäftsidee begeistern kann wie Du. Gerade für Dich als Gründer verbirgt sich an dieser Stelle eine gefährliche Stolperfalle. Denn nur weil Du selbst etwas liebst, heißt das nicht automatisch, dass alle anderen das genauso sehen.

Außerdem findest Du nicht “durch angestrengtes Nachdenken im stillen Kämmerlein” heraus, ob die Welt sich für Deine innovative Produktidee oder Deinen neuen Service begeistern kann. Wenn Du wirklich sichergehen möchtest, ob Deine Geschäftsidee dieses Ikigai-Elements erfüllt, wirst Du nicht umhin kommen, Dich intensiv mit Deiner Zielgruppe bzw. Deinem Kundensegment zu beschäftigen.

Eine exzellente Möglichkeit, um zu erkennen, was die Welt braucht, sind natürlich Interviews mit Kunden und Nutzern, Methoden aus dem Design Thinking oder auch das Value Proposition Canvas. Auch die Jobs-to-Be-Done-Methode kann Dich dabei unterstützen, einen klaren Blick auf die Wünsche Deiner Zielgruppe zu entwickeln.

Wofür Menschen Dich bezahlen

Auch das vierte Ikigai-Element wirst Du nur schwerlich durch “angestrengtes Nachdenken” herausfinden können. Wenn Du sichergehen willst, dass Deine Geschäftsidee sich auch finanziell trägt, musst Du ausprobieren, ob Menschen auch wirklich dazu bereit sind, Dich dafür zu bezahlen.

Außerdem lohnt es sich für Dich , wenn Du Dir Gedanken darüber machst, wie Dein Bezahlmodell aussehen soll, weil Du hier sehr viele verschiedene Optionen hast. Das beginnt bei Abonnements und reicht bis hin zu Spenden. Einen ersten Überblick über Deine Möglichkeiten findest Du auch in meinem Artikel über das Business Model Canvas im Abschnitt Revenue Streams.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Dir das Ikigai-Modell dabei helfen kann, Dir die richtigen Fragen über Dich und Deine Gründungsidee zu stellen. Gleichzeitig macht es aber auch deutlich, dass ein gutes Business Model allein nicht ausreichend ist, um erfolgreich zu gründen. Du solltest deshalb nicht vergessen, Dich mit Deinem WARUM bzw. dem Ikigai-Element Was Du liebst zu beschäftigen.

Zweitens wird deutlich, dass Du Dein Ikigai nicht durch reine Selbstreflexion finden kannst, sondern Du intensive Gespräche mit engen Vertrauten und Menschen Deiner Zielgruppe führen musst, um Dein Ikigai zu finden. Glücklicherweise kannst Du für die Suche nach Deinem Ikigai auf eine Vielzahl von Tools & Methoden zurückgreifen, die Dich dabei unterstützen.

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